Tinnitus

Tinnitus (Ohrgeräusch, Ohrklingeln): Wahrnehmung von Geräuschen ohne Schallquelle. Immerhin ein Drittel der Erwachsenen in den Industrieländern haben zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Lebens mindestens einmal eine tage- bis wochenlange Phase eines akuten Tinnitus – Ohrgeräusche sind also praktisch eine Volkskrankheit. Bei drei Millionen Patienten sind sie in einen chronischen Tinnitus übergegangen. Viele Betroffene fühlen sich in ihrer Lebensqualität deutlich eingeschränkt, 400 000 Menschen in Deutschland sind durch Ohrgeräusche derart belastet, dass sie unter Schlafstörungen, Depressionen und Angstzuständen leiden.

Leitbeschwerden

  • Auftreten von Geräuschen unterschiedlicher Klangqualität: am häufigsten hochfrequentes Pfeifen, Rauschen oder Summen; seltener Zischen, Piepsen, Sausen oder Brummen
  • Häufig gleichzeitig Schwerhörigkeit
  • Vor allem in der Stille (z. B. nachts) wahrnehmbar

Die Erkrankung

Tinnitus ist eigentlich keine Erkrankung, sondern nur ein Symptom, das von vielen verschiedenen Grunderkrankungen ausgelöst werden kann. Häufig liegt eine Funktionsstörung im Hörsystem zugrunde, ein Anzeichen dafür ist ein gleichzeitiger Hörverlust. Mögliche Ursachen sind neben dauerhafter und akuter Lärmeinwirkung (laute Musik, aber auch Knalltraumata), ein Hörsturz und andere Erkrankungen des Mittel- oder Innenohrs. Auch Erkrankungen der Halswirbelsäule, Störungen des Kaumuskelsystems, Verspannungen in der Kiefer- und Nackenmuskulatur sowie generell Stoffwechsel- sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen können einen Tinnitus auslösen und unterhalten. Auch eine Kiefergelenksfehlstellung – die Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) – ist in manchen Fällen die Ursache. In etwa 70 % klingt der Tinnitus innerhalb von zwei Monaten ab. Die Symptomatik verschwindet also von selbst wieder, auch ohne Therapie. Von daher ist zwar die Besorgnis der Betroffenen über das plötzliche Geräusch oder den Ton gut zu verstehen, aber von medizinischer Seite handelt es sich in seltenen Fällen um eine schlimme Erkrankung.

Betroffene schildern oft, dass Tinnitus im zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit seelischen, aber auch körperlichen Belastungen auftritt. Auch seine Tonhöhe und Intensität verändern sich oft mit dem Stressniveau: Gibt es im Alltag eine Belastungsspitze, wird der Tinnitus hochfrequent und laut. Stehen Urlaub und Entspannung an, so klingt er tiefer und wird leiser. Häufig wird sogar ein einzelnes traumatisches Ereignis als Auslöser beschrieben. Angstzustände und depressive Verstimmungen können die Symptomatik weiter verstärken. Schließlich können gelegentlich auch bestimmte Medikamente Ohrgeräusche auslösen (z. B. Acetylsalicylsäure, Diuretika, Chinin oder Aminoglykosid-Antibiotika). Chininhaltigen Erfrischungsgetränken schreibt man ebenfalls eine Tinnitus auslösende Wirkung zu.

Bei vielen Ohrgeräuschen lassen sich jedoch keine Schäden am Ohr nachweisen. Das legt den Schluss nahe, dass Tinnitus in Regionen entsteht, die an der Geräuschweiterleitung und -verarbeitung beteiligt sind.

Tritt ein Tinnitus zusammen mit einer sich zunehmend einseitig verschlechternden Hörfähigkeit auf, muss der Arzt an ein Akustikusneurinom denken. Der Tinnitus schwindet mit zunehmender Ertaubung.

Das macht der Arzt

Die Tinnitusbehandlung ist so vielfältig wie die möglichen Ursachen und die Diagnose ist teilweise sehr komplex, da viele Grunderkrankungen infrage kommen. In der Regel werden Hörprüfungen durchgeführt, um etwaige Einschränkungen des Hörvermögens genau zu erfassen. Zudem gibt das Gespräch mit dem Patienten wichtige Hinweise über mögliche Auslöser wie Stress oder Lärm. Anschließend können Untersuchungen des Herz-Kreislauf-Systems, des Stoffwechsels oder der Halswirbelsäule hinzukommen.

Die Behandlung ist stark vom Einzelfall abhängig und erfordert vom Arzt eine sorgfältige Prüfung der verschiedenen Therapieoptionen. Die Spontanheilung, d. h. die Rückbildung sämtlicher Symptome ohne Therapie, liegt bei 70 %. Eine klare, eindeutig wirksame Behandlung existiert bisher nicht – aufgrund der hohen Spontanheilungsrate lässt sich die Wirksamkeit einzelner Verfahren nur schlecht belegen.

Akuter Tinnitus. Folgende Standardverfahren können beim akuten Tinnitus sowohl gleichzeitig als auch aufeinanderfolgend eingesetzt werden. Sie führen in der Mehrzahl der Fälle zu einer Verbesserung, häufig zum völligen Verschwinden des Ohrgeräuschs:

  • Viele Patienten durchlaufen zunächst eine ambulante Infusionstherapie für etwa 5–10 Tage jeweils 2–4 Stunden pro Tag. Sie soll die Durchblutung des Innenohrs verbessern, Durchblutungsstörungen beseitigen und die Heilung beschleunigen. Eingesetzt werden durchblutungsfördernde Wirkstoffe wie Pentoxifyllin (z. B. Trental®) oder Hydroxyäthylstärke (z. B. HAES®) sowie Lidocain – letzteres blockiert die Weiterleitung von Nervenimpulsen und sorgt dafür, dass sich die Sinneszellen erholen können. Bei starken Hörverlusten über alle Frequenzen und beim Einsatz von Lidocain erfolgt die Behandlung stationär. Denn zum einen sind längere Infusionsdauern nötig, zum anderen werden die Patienten beobachtet, denn Lidocain kann die Erregungsweiterleitung im Herz stören.
  • Um Ursachen wie Entzündungen oder Schwellungen zu behandeln, bietet sich eine 10- bis 15-tägige Behandlung mit Kortison in absteigender Dosierung an, beginnend z. B. als hoch dosierte Spritze oder Infusion, dann ab dem 3.–5. Tag in Tablettenform.
  • Bei Problemen der Halswirbelsäule hilft eine manualmedizinische Untersuchung und Behandlung (z. B. beim Orthopäden oder beim Chiropraktiker).
  • Beim akuten Tinnitus wird eine hyperbare Sauerstofftherapie in der Druckkammer empfohlen. Innerhalb der ersten neun Wochen sind die Erfolge am deutlichsten: 15 % der akuten Tinnituspatienten erleben eine Verbesserung, 70 % bleiben unverändert und 15 % werden schlechter. Die Kosten werden von den Krankenversicherungen normalerweise nicht übernommen.

Begleitend erfolgt immer, wenn möglich, eine Behandlung der Grunderkrankung.

Chronischer Tinnitus. Beim chronischen Tinnitus ist das primäre Therapieziel die Linderung der Symptome, da eine vollständige Beseitigung des Ohrgeräuschs nur selten möglich ist. Neben zahlreichen Selbsthilfemaßnahmen stehen folgende Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung:

  • Akustische Überdeckung des störenden Ohrgeräuschs durch einen Tinnitusmasker. Dieses Gerät sieht aus wie ein Hörgerät. Durch ein fest definiertes Rauschen, das ein Hörgeräteakustiker einstellt, nimmt der Patient seinen eigenen Tinnitus nicht mehr wahr. Es hilft durchaus – wenn man es vorübergehend nicht mehr benutzt, treten die Ohrgeräusche jedoch umso störender auf. Der Tinnitusmasker kann auch nachts getragen werden.
  • Im Rahmen einer Tinnitus-Retrainingstherapie sollen das Ohr und das Gehirn (wieder) lernen, störende Geräusche auszufiltern. Dazu wird ein Tinnitusnoiser eingesetzt, der ein zweites Rauschen erzeugt, das den Tinnitus aber nicht überdeckt. Wenn sich der Patient auf das neue Geräusch konzentrieren kann, lernt er zugleich, die eigenen dauerhaften Ohrgeräusche auszublenden bzw. nicht mehr als störend wahrzunehmen. Diese Behandlung dauert mehrere Monate und beinhaltet eine intensive psychologische Beratung. Obwohl das Tinnitus-Retraining gute Erfolge zeigt, übernehmen es die gesetzlichen Krankenkassen nicht als Regelleistung – ob und welche Kosten sie im Einzelfall erstatten, sollte daher vor Behandlungsbeginn geklärt werden.
  • Hyperbare Sauerstofftherapie. Wenn sich der Tinnitus hartnäckig hält, ist die Druckkammer einen Versuch wert. Es gibt zwar wenig Daten zu dieser Therapieform, aber Erfahrungsberichten zufolge nimmt bei einigen Patienten zumindest die Stärke der Beschwerden ab.

Selbsthilfe

Der Tinnitus ist kein Notfall, aber durchaus ein Eilfall, denn die Patienten werden durch dieses Symptom sehr verunsichert. Manchmal löst sich das Problem auch durch eine große Portion Schlaf (lassen Sie sich gegebenenfalls ein Schlafmittel verordnen), und anschließendes etwas „Kürzertreten“. Tritt der Tinnitus als einziges Symptom auf (also nicht im Rahmen eines Hörsturzes, einer Menière-Krankheit oder einer sonst nachweisbaren Erkrankung), weiß die Wissenschaft noch nicht viel über das Problem. Einige Beobachtungen legen den Schluss nahe, dass es sich um eine neurologische Erkrankung handelt, deren Sitz in der Hörrinde des Schläfenlappens im Gehirn liegt. Es ist zwar durchaus möglich, dass der Tinnitus bleibt, allerdings muss man einräumen, dass sich auch noch nach Jahren chronische Probleme zum Positiven hin ändern können.

Selbstbehandlung und Komplementärmedizin haben vor allem beim chronischen Tinnitus ihren Platz, sie wirken jedoch auch bei akuten Ohrgeräuschen unterstützend:

Akuter Tinnitus. Vermeiden Sie jeden Stress und lassen Sie sich z. B. für einige Tage krankschreiben. Haben Sie öfters Tinnitusepisoden, sollten Sie versuchen, eine Entspannungstechnik oder bestimmte Entspannungsübungen zu erlernen, um den Stress besser abzubauen (z. B. Autogenes Training).

Chronifizierung verhindern. Je öfter Sie Tinnitusepisoden haben, desto eher droht Ihr Tinnitus zum Dauerproblem zu werden. Versuchen Sie herauszufinden, welche Faktoren Tinnitusepisoden hervorrufen. Das können Überforderungssituationen im Job sein, aber auch Verkehrsgeräusche, die nachts den Schlaf unterbrechen, ungelöste finanzielle Probleme oder familiäre Schwierigkeiten. Das Leben ist nicht dauerhaft ohne Stress zu haben, deshalb ist es wichtig zu wissen, welche Stressoren genau Ihr Problem sind. Und scheuen Sie dann keinen Aufwand, Ihre „Tinnitus-Provokateure“ auszuschalten. Egal, ob ein Arbeitsplatzwechsel, eine Erziehungsberatung oder ein Wohnungswechsel erforderlich sind – tun Sie, was zu tun ist, damit Sie nicht für Jahre und Jahrzehnte unter einem chronischen Tinnitus leiden.

Lärm. Wenn Ihr Arbeitsplatz durch Lärm und Lärmspitzen geprägt ist (z. B. in Abfüllanlagen oder in der Holz- und Metallverarbeitung), sollten Sie mit dem Betriebsarzt offen über Ihr Problem reden. Zumindest bei hochfrequenten Belastungen helfen spezielle Lärmstöpsel und -schutzkapseln. Problematisch ist übrigens auch das Violinespielen – wenn Ihr Tinnitus linksseitig ist, sollten Sie grundsätzlich einen Lärmstöpsel beim Spielen einsetzen. Noch besser sind individuell vom Hörgeräteakustiker nach einem abgeformten Modell angepasste Lärmstöpsel, diese bringen bis zu 25 dB Lärmreduktion.

Selbstverständlich sollte sein, dass Sie nicht notwendige Lärmspitzenbelastungen wie Popkonzerte und Bierzeltfeste meiden oder eben Lärmstöpsel tragen (wobei diese, wenn sie wirksam sind, die Verständigung deutlich erschweren).

Fokus weg vom Tinnitus. Lenken Sie sich akustisch von Ihrem Tinnitus ab und versuchen Sie, sich auf andere Geräusche zu konzentrieren. Besonders geeignet sind gleichförmige Hintergrundgeräusche wie sie z. B. ein tickender Wecker, ein Zimmerspringbrunnen oder ein eingeschalteter Computer produzieren.

Um einen bildhaften Vergleich zu wählen: Betrachten Sie den Tinnitus als lästige Mücke, die nachts in Ihrem Schlafzimmer herumfliegt, aber bei Licht unauffindbar bleibt. Die einzige Chance wieder einzuschlafen, besteht darin, die Decke über beide Ohren zu ziehen und an andere Dinge zu denken, Ihre innere Aufmerksamkeit also wegzulenken vom Störfaktor Mücke. Genauso liegt der Fall beim Tinnitus: Nur wenn Sie ihn innerlich loslassen können, werden Sie ihn besiegen. Konzentrieren Sie sich jedoch auf ihn, reden Sie über ihn, denken Sie auch im Wachzustand an ihn – so haben Sie den Kampf schon verloren. Viele Menschen haben mit dieser Ablenkungsmethode Erfolg. Bei sehr lauten Ohrgeräuschen oder -tönen funktioniert sie jedoch erfahrungsgemäß nur noch bedingt.

Rückzug vermeiden. Ziehen Sie sich nicht zurück und machen Sie Tinnitus nicht zu Ihrem Lebensmittelpunkt. Bemühen Sie sich um positives Denken und pflegen Sie Ihren Freundeskreis sowie Ihre familiären Beziehungen.

Genussmittel. Finden Sie heraus, ob Ihr Gehör unter Nikotin, Coffein oder Alkohol leidet. Der Tinnitus ist da für viele ein ehrliches Barometer. Und wenn es ausschlägt: Reduzieren Sie das entsprechende Genussmittel radikal.

Sport. Körperliche Bewegung tut gut, auch wenn der Tinnitus direkt nach dem Sport erst einmal etwas intensiver werden kann. Vor allem moderater Ausdauersport hilft, Stress abzubauen und den Tinnitus damit langfristig zu reduzieren.

Komplementärmedizin

Pflanzenheilkunde. Ob durchblutungsfördernde Heilpflanzen, allen voran Ginkgo (z. B. Kaveri® forte), bei Tinnitus helfen, ist umstritten. Manche Experten zweifeln die Aussagekraft von Studien generell an, nach denen die regelmäßige Einnahme von Gingko-Extrakten sich günstig auf einen chronischen Tinnitus auswirkt.

Entspannungsverfahren wie Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung nach Jacobson, Yoga oder Tai Chi helfen, Stress abzubauen bzw. besser mit stressbelastenden Situationen umzugehen, und haben deshalb ihren festen Platz als begleitende Maßnahme in der Tinnitustherapie. Einen direkten Einfluss auf die Intensität des Tinnitus scheinen sie aber nicht zu haben.

Akupunktur kann die Tinnitusbehandlung unterstützen, obwohl nicht geklärt ist, ob die Akupunktur selbst heilsam wirkt oder ob die Betroffenen vom entspannenden Effekt profitieren.

Homöopathie. Die Homöopathie empfiehlt als Begleitmaßnahme eine individuell abgestimmte Konstitutionstherapie. Häufig eingesetzte Homöopathika bei Tinnitus sind z. B. Calcium carbonicum, Calcium sulfuratum, Coffea, Kalium carbonicum oder Phosphorus.

Biofeedback. Chronischen Tinnitus mithilfe von Biofeedback zu lindern, ist einen Versuch wert, auch wenn Studien zur Wirksamkeit für diese Indikation bislang nicht eindeutig positiv verlaufen sind.

Musiktherapie. Im Deutschen Zentrum für Musiktherapie (DZM) wurde ein Therapiemodell entwickelt, das bei 80 % der Patienten anschlägt. Durch gezielte Übungen mit Musik lernen sie, bewusst Kontrolle über den Ohrton auszuüben. Neuesten Erkenntnissen zufolge profitieren die Patienten auch langfristig: So nahmen bei ihnen innerhalb von drei Jahren die Ohrgeräusche um durchschnittlich 20 Prozent ab. Selbst Patienten mit sehr starkem Tinnitus sprachen derart gut auf die Musiktherapie an, dass sie mittlerweile nur noch mit leichten Ohrgeräuschen zu kämpfen haben.